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Die Kunst des Erzählens

Die behauptende Wissenschaft lehrt die strenge und manchmal auch unangenehme Wahrheit über die Welt. Die Kunst des Erzählens zerstreut den Geist dagegen nach der anstrengenden Auseinandersetzung mit der harten Wirklichkeit und erfreut ihn durch schöne oder aufregende Fiktionen. Auch 12die sozialen Verhältnisse sind verschieden, je nachdem, ob man sich in einer Lehr- oder Erzählsituation befindet. Wer eine Behauptung zur Kenntnis zu nehmen hat, wird über etwas unterrichtet, ist in der Haltung des Lernenden, der einem Lehrenden gegenübersteht, der die Autorität der Wahrheit auf seiner Seite hat. Der Lehrer nimmt dabei für sich in Anspruch, gegenüber dem Lernenden etwas behaupten zu können, das dieser zu akzeptieren hat. Wer etwas erzählt bekommt, dem werden dagegen Ablenkungen angeboten, der Erzähler scheint ihm mit Fiktionen zu dienen. Die Autorität des Erzählers scheint sich allein aus seiner Fähigkeit zu speisen, die Aufmerksamkeit des Zuhörers oder Lesers mit seiner Geschichte fesseln zu können.

 

So einfach und einfältig hat das natürlich niemand gesagt. Doch Charakterisierungen von Disziplinen wie Physik oder Chemie als »harten« Wissenschaften und Epik, Dramatik und Lyrik als »weichen« Unternehmungen – Charakterisierungen, die man in der Schule oder in der Universität hören kann – scheinen auf zumindest implizite Bewertungen dieser Tätigkeiten hinzuweisen, die in die oben angedeutete Richtung gehen. 

Michael Hampe - Die Lehren der Philosophie

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Das behauptende Reden ein Selektionsvorteil

Das Leben behauptender Wesen, sprachliche Dissidenz

Die Art und Weise, wie Handeln und Sprechen im menschlichen Leben aufeinander abgestimmt sind und in Erziehungsprozessen immer wieder aufeinander abgestimmt werden, kann man sich in einer fiktiven Genealogie der Lebensform behauptender Wesen als das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses denken. In dieser Genealogie, die den Wittgensteinschen Sprachspielbegriff mit etwas (fiktiver) Empirie auffüllt (ähnlich wie das Wilfrid Sellars in seinem Mythos über unsere »rylean ancesters« tut), stellt das behauptende Reden einen Selektionsvorteil für die sozial lebenden Menschen, bei denen es zunächst aufgetreten ist, dar. Die genealogische Methode hat in diesem Zusammenhang wie bei Nietzsche vor allem eine kritische Funktion. Sie soll hier keine wirklich überzeugenden historischen Behauptungen oder normative Legitimationen liefern.

 

Nicht nur Menschen, sondern auch andere Tiere geben einander Zeichen. Wenn ein Vogel einen Beutenehmer sieht, erschrickt er vielleicht und drückt seine Furcht in einem Schrei aus, der für die anderen Tiere im Wald durch Gewohnheit (Konditionierung) allmählich zu dem Signal wird, daß ein gefährliches Tier das Revier betreten hat. Es muß jedoch nicht so sein, daß der Vogel seine Laute mit der Absicht ausstößt, die anderen über die Anwesenheit des Raubtiers zu informieren. (Dies ist wohl bei Murmeltieren und Erdmännchen so, bei denen sogenannte »Wächter«, die nach Raubvögeln Ausschau halten, pfeifen, wenn ein Schatten über ihr Revier streicht.) Beim Äußern von Behauptungssätzen, die eine Subjekt-Prädikat-Struktur besitzen und Ortsangaben enthalten, geschieht jedoch etwas anderes. Mit einer Äußerung wie: »Auf der Lichtung hinten links gibt es Rehe« drückt der Sprecher nicht einen Affekt aus, der für andere Signalcharakter haben kann, sondern informiert andere absichtlich über Abwesendes und vergegenwärtigt es ihnen. Der Warnschrei des Vogels vergegenwärtigt auch etwas, was jetzt schon da ist, aber vielleicht noch nicht von allen wahrgenommen wird. Er wird jedoch nicht notwendigerweise in der Absicht ausgestoßen, anderen etwas zu vergegenwärtigen.

 

Der Bericht über Abwesendes in einem Behauptungssatz erweitert den Weltzugang noch auf eine andere Weise, denn er bringt eine wichtige soziale Dimension des Zeichengebrauchs ins Spiel: Wer in der Lage ist, zuverlässig über eine Nahrungsquelle zu informieren, verschafft allen in der Gruppe einen Vorteil, sofern Nahrungsressourcen in ihr geteilt werden. Die Möglichkeit des Teilens von Informationen oder Wahrheiten ermöglicht das Teilen von Ressourcen. Dadurch werden Informationen selbst zu einer wertvollen Ressource. Wenn sich allerdings das Behauptete als falsch herausstellt, ist das enttäuschend und unter Umständen auch verheerend. Das ist der Grund, warum die wahre Behauptung sozial belohnt und die falsche sanktioniert wird. Eine Konkurrenz um das Herausfinden von Wahrheiten, die für alle relevant sind, könnte die Folge sein, weil das Auffinden und die Kommunikation von Wahrheiten den Findern und Kommunikatoren soziale Privilegien einbringen.

 

Von einigen Linguisten wird vermutet, daß das Gestikulieren mit den Händen das ursprüngliche sprachliche Verhalten der frühen Menschen war, die gemeinsam in der Savanne auf Jagd gingen und so ihre Mitmenschen über ihre Bewegungen informierten. Über Gesten könnten sie ihr Handeln koordiniert und sich gegenseitig über ihre Beutetiere berichtet haben. Es ist vorstellbar, daß sich in einer solchen Gesellschaft ein fein abgestimmtes System von nichtsprachlichen und sprachlichen Bewegungen herausgebildet hat, das eine hohe Funktionalität aufwies und menschlichen Gruppen gegenüber anderen Primaten, die zu einem derartigen Verhalten nicht in der Lage waren, einen hohen Selektionsvorteil verschaffte. Freilich bleiben Aussagen über das Verhalten prähistorischer Wesen, das ja nun einmal nicht versteinert, immer bis zu einem gewissen Grad spekulativ.

Michael Hampe - Die Lehren der Philosophie